Ab welchem Alter werden aus Kindern eigentlich Menschen? Wem diese Frage seltsam vorkommt, hat verfassungsrechtlich jetzt bereits mehr begriffen als die gesamte Fraktion der Grünen, die am heutigen Donnerstag im Bundestag einen Gesetzesentwurf diskutieren lässt, um Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Nun ist dies kein exklusiver Vorschlag der Grünen, genaugenommen ist es sogar ein Lieblingsprojekt der SPD, die sich seit Jahren an der Sache versucht. Aber auch die Partei der Linken scheiterte bereits 2013 am selben Vorhaben, das die Grünen gerade einfach nur reloaden. Die Zeit scheint günstig für grüne Vorschläge. Nachdem man die Kinder aus den Schulen auf die Straße getrieben hat, um sie als Klimahelden ganz groß rauszubringen, will man ihnen nun verfassungsrechtlich zu mehr Mitspracherecht verhelfen. Entsprechend auch die Formulierungen im Gesetzesplan. Ich warte genaugenommen nur noch auf die Forderung der Grünen, im zweiten Schritt das Wahlalter auf 14 herabzusenken, damit sollten die jungen Wählerstimmen auf Jahrzehnte gesichert sein und zur Belohnung gibt es lebenslänglich kostenlos Bionade.
Doch auch im konservativen Lager ist man vereinzelt auf Kinderrettungsmission via Grundgesetz. In einem Anfall von Wahnsinn hatte selbst die CSU das Thema auf Drängen von Horst Seehofer einst ins Bundestagsprogramm der Union und dann auch in den Koalitionsvertrag gebracht – gegen den expliziten Wunsch zahlreicher Unionspolitiker. Der Vorschlag Kinderrechte in die Verfassung scheint für manche einfach zu sexy, um politisch daran vorbei zu gehen. Wer mag schon etwas dagegen haben, oder gar öffentlich gegen Kinderrechte argumentieren? Warum also nicht, schadet ja keinem, denkt der Durchschnittwähler, während vor seinem geistigen Auge traurig blickende Kinderkulleraugen auftauchen, denen er heldenhaft zu einem Lachen verhelfen will. Soweit die Prosa.
Eine Sache wird inhaltlich nicht besser, nur weil Viele sie fordern. Wenn der Lemming sich gedankenlos in den Abgrund stürzt ist das ja auch kein Zeichen von Schwarmintelligenz, sondern eher Ausdruck unreflektierten Herdentriebes, den man sonst eher bei den ständig neuen Hypes in sozialen Netzwerken beobachten kann. Umso erschreckender, wenn er sich unter gewählten Parlamentariern breit macht.
Gehen wir also in medias res: Niemand braucht Kinderrechte in der Verfassung. Weder die Kinder, um besser geschützt zu werden – vor wem, müsste noch geklärt werden – noch die Politik, um handlungsfähiger zu werden, und um mehr für Kinder tun zu können.
Kinder sind auch Menschen. Diese verblüffend einfache Erkenntnis sollte normalerweise sogar juristisch völlig unbedarften Menschen ausreichen, um zu erfassen, dass eine Verfassung, die jeden Menschen ganz unabhängig von seinem Alter, seinem Status, seiner Religion oder seinem geistigen oder körperlichen Zustand den uneingeschränkten Schutz seiner Würde und seiner Rechte aus genau dieser Verfassung zusichert, niemanden zusätzlich namentlich erwähnen muss. Wir nehmen ja auch nicht Alte, Behinderte oder Rothaarige als Träger besonderer Rechte auf. Genaugenommen schützen wir sogar die Würde übler Verbrecher und auch die von Toten. Weil sie Menschen sind und unsere Präambel sogar noch zusichert, dass wir das vor einem Gott bekennen. Menschenrechte haben kein Verfallsdatum, keine Altersgrenze, keine Hautfarbe, kein Geschlecht und keine Bedingung, mit der wir in Vorleistung gehen müssen, um sie zu erhalten.
Wir erhalten sie automatisch noch vor unserer Geburt, deswegen gilt die Tötung ungeborener Kinder ja auch immer noch als Straftat nach Paragraf 218. Das Kinderrecht auf Leben, also das Recht, auf die Welt kommen zu dürfen, ist wiederum ein Recht, das dieselben Grünen gerade allen Kindern verfassungswidrig nehmen wollen, indem sie die Legalisierung von Abtreibung fordern, wie die Kinderschützer der SPD und der Linken übrigens auch. Das nur als Beispiel für die Doppelmoral des Unterfangens „Kinderrechte in die Verfassung“.
Wer die Muße hat, dem seien die Gutachten der Sachverständigen vor dem Rechtsausschuss des Bundestages im Jahr 2013 anempfohlen, die man im Bundestagsarchiv nachlesen kann
Damals hatten Grüne, Linke und SPD drei sich ähnelnde Gesetzesinitiativen für Kinderrechte in die Verfassung eingebracht und scheiterten mit dem Vorhaben. Die überwältigende Mehrheit aller Experten sprach sich schon damals gegen eine Änderung des Art. 6 Grundgesetz aus.
Wer also Kinderrechte in die Verfassung fordert, hat anderes im Sinn, als Rechtslage oder Schutz von Kindern zu verbessern; schließlich leben wir nicht in der Dritten Welt. Es geht vielmehr um das Reißen einer Kompetenzgrenze, die Eltern derzeit halten – und zwar gegen den Staat. Denn die spannende Frage ist ja, wer vertritt dann diese neu zu schaffenden Rechte der Kinder, und vor allem gegen wen? Nach aktueller Rechtslage haben laut Artikel 6 GG die Eltern eine natürliche Vertretungsvollmacht für ihre Kinder, weil unsere Verfassung mit Vertrauen in Eltern annimmt, dass diese ein natürliches Interesse am Wohlergehen ihrer Kinder haben. Eltern haften im Umkehrschluss übrigens auch für ihre Kinder, die Schilder an Bauzäunen kennen wir alle.
Kinderrechte in die Verfassung wäre also der ausgesprochene Generalverdacht gegen die Erziehungskompetenz von Eltern. Es würde mit der Selbstverständlichkeit brechen, dass Eltern selbst entscheiden, was gut und richtig ist für ihre Kinder, dass sie entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehen, welche Werte sie weiterreichen, was sie ihren Kindern erlauben oder verbieten. Dieses Recht müssen wir als Eltern nicht erst vom Staat erwerben, es wird nicht zugeteilt, wir haben es. Die Rechte unserer Kinder können wir übrigens auch gegen die Einmischung des Staates vertreten, unsere Kinder vor dem Zugriff des Staates beschützen, wenn wir es für nötig halten, weil die Freiheitsrechte des Grundgesetzes immer auch Abwehrrechte gegen die Einmischungstendenzen des Staates sind.
Kinderrechte in der Verfassung taugen also eher als Keil zwischen Eltern und Kind und als neues staatliches Instrument, um die Vertretung von Kinderrechten aus dem Machtbereich der Familie zu schälen und den Staat als neuen Advokaten der Kinder zu installieren. Im Zweifel auch gegen die Eltern. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katja Dörner formuliert im ZDF genau in diese Richtung: Es reiche eben nicht aus, dass Kinder im Grundgesetz einfach mitgedacht würden. „Ihre Rechte werden immer von anderen wahrgenommen“ so Dörner, und vergisst zu erwähnen, dass diese „Anderen“ die Eltern genau dieser Kinder sind, die laut Verfassung sogar die Pflicht haben, die Interessen ihrer Kinder zu vertreten. Doch Dörner wird ganz deutlich: Der Staat sei leider bisher „nicht ausreichend verpflichtet, die Rechte der Kinder sicherzustellen und zu schützen.“ Mal davon abgesehen, dass ja auch der Staat dann „ein Anderer“ wäre, der die Rechte der Kinder verträte und nicht die Kinder selbst, ist das schlicht blanker juristischer Unsinn, denn genau das Gegenteil ist wahr, wir erinnern uns: Kinder sind auch Menschen. Der Staat muss sie sowieso schützen.
Ins gleiche argumentative Horn blies aber auch bis zuletzt Manuela Schwesig, neuerdings Teil des SPD-Spitzen-Dreigestirns, die in ihrer Zeit als Familienministerin so pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk alljährlich mit dem Thema Kinderrechte hausieren ging, was sich bis ins Jahr 2012 zurückverfolgen lässt.
Die Nation stand damals unter Schock, weil in Hamburg die kleine Chantal an einer Überdosis Methadon gestorben war. Alle riefen damals nach mehr Kinderschutz. Sowas dürfe nicht sein, so Schwesig damals im Interview mit dem Deutschlandradio: „Wir brauchen Kinderrechte im Grundgesetz.“ Und fügte an: „Oftmals sind Elternrechte oder andere Rechte höher als die Kinderrechte. Das halte ich für falsch. Und das Betreuungsgeld, das gezahlt werden soll, ist auch eine Gefahr für den Kinderschutz.“ Da waren sie also, die Eltern als natürlicher Feind des Kindes. Was Schwesig damals nicht erwähnte: Die arme Chantal starb unter der Obhut des deutschen Jugendamts, das das Mädchen bei drogensüchtigen Pflegeeltern untergebracht hatte.
Nun gibt es aber tatsächlich Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen oder gar misshandeln. Für all diese Fälle ist aber bereits heute die Rechtslage eindeutig und ausführlich geregelt. Denn ja, Kinder sind auch Menschen und stehen unter dem Schutz des Staates egal wer ihnen diese Rechte nimmt. Der Staat kann nicht nur, er darf und muss auch heute bereits eingreifen, wenn ein Kind vernachlässigt oder gefährdet ist. Erschreckend oft macht er davon Gebrauch und darf die Kinder allein schon auf Verdacht der Kindeswohlgefährdung präventiv aus den Familien nehmen. Ganz ohne mediales Aufsehen wurde 2008 hierfür gar die Beweislast im Verdachtsfall umgekehrt. Für Eltern heißt das: Man darf ihnen die Kinder wegnehmen und sie müssen dann ihre Unschuld oder gar ihre Erziehungsfähigkeit beweisen – allerdings ohne Anwesenheit der Kinder. Wie das funktionieren soll, ist mir persönlich ein Rätsel, faktisch wurde aber in Bezug auf Eltern die Unschuldsvermutung abgeschafft zugunsten eines Generalsverdachtes, den es dann auszuräumen gilt. Statt „in dubio pro reo“ gilt jetzt „Im Zweifel gegen die Eltern“.
2014 hatte Schwesig ihre Forderung nach eigenständigen Kinderrechten übrigens damit begründet, dass Jugendämter und Gerichte sich dann bei ihren Entscheidungen, wo ein Kind leben soll, stärker nach dem Kindeswohl richten könnten und nicht nach dem Vorrecht der Eltern, das im Grundgesetz verankert ist. Schon 2014 hat eine SPD-Familienministerin also ganz offen ausgesprochen, dass das Kindeswohl besser mal vom Staat definiert werden sollte, und das Instrument „Kinderrechte“ ein Zugriffsrecht des Staates schaffen soll. Wunderbar diese frische Offenheit. Das wurde damals nur getoppt durch ihren Staatssekretär Ralf Kleindiek, der ebenfalls 2014 die Forderung nach Kinderrechten mit Verfassungsrang mit den Worten begründete, Kinder und Jugendliche hätten „das Recht auf Förderung ihrer Fähigkeiten zur bestmöglichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit sowie auf Schutz und Beteiligung“. Und dazu gehöre, „Kinder früh entsprechend ihrer Bedarfe zu fördern und ihnen Raum für gemeinsames Lernen mit Gleichaltrigen zu bieten. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung und verbindliche, einheitliche Qualitätsstandards für die Betreuungsangebote sind ein zentraler Baustein dieser Förderung.“ Das Wort Eltern oder Familie fiel da kein einziges Mal.
Man muss nicht mutmaßen, sondern nur zuhören und der Spur folgen, dann kommt man an dem Punkt an, den Olaf Scholz, bald der letzte Mohikaner der SPD, wenn der Verschleiß des Führungspersonals sich weiter ausweitet, bereits vor vielen Jahren als die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ titulierte, die es zu gewinnen gälte. Wir fassen zusammen: Kinderrechte in die Verfassung, der Staat als Advokat der Kinder, Kindeswohl als Definitionshoheit des Staates statt der Eltern. Kindergarten wird von Betreuungseinrichtung zur Bildungseinrichtung umgedeutet. Kinderrecht auf Bildung in einer staatlichen Bildungseinrichtung im Zweifel auch gegen den Willen der Eltern. Noch Fragen? Strategisch brillant über viele Jahre aufgebaut. Schon 2009 hatte die SPD die Einführung einer Kitapflicht auch bei Widerstand der Eltern durch die ehemalige Berliner SPD-Justizsenatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit in einem Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung prüfen lassen. Unter dem schönen Titel „Prüfung der Verbindlichkeit frühkindlicher staatlicher Förderung“ kam man zum Ergebnis das Erziehungsrecht der Eltern aus Artikel 6 Grundgesetz stehe der Sache im Wege. Dass jetzt schon wieder unter Regie der SPD eine Expertengruppe aus Bund und Ländern an einem neuen Gesetzesentwurf arbeitet, der dies Elternrecht durch Installation von Kinderrechten in der Verfassung aushebeln soll, ist also kein Zufall, sondern der erneute Versuch, einen staatlichen Zugriff auf die kommende Generation zu sichern.
Neu ist nur, dass ausgerechnet die CSU sich als Steigbügelhalter für die Umsetzung sozialistischer Gesellschafts-Fantasien betätigt. Es gliche genaugenommen einem Offenbarungseid in Sachen CSU-Familienpolitik, wenn der juristische Paradigmenwechsel in Sachen Erziehungsrecht der Eltern ausgerechnet von den Bayern eingeläutet würde, immerhin ist die CSU die letzte Volkspartei, die noch mit einem halbwegs unterscheidbaren familienpolitischen Profil aufwarten kann und sich bisher immer als Vertreter der Familien positioniert hatte. Eine Ambition, die die Schwesterpartei CDU bereits mit Frau von der Leyen als Familienministerin beerdigt hatte, und lieber unverdrossen dem familienpolitischen Programm der Genossen brav folgt, auch wenn sich die neue Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer zuletzt in ihrem Rundschreiben an die werten Parteimitglieder damit brüstete, man sei ja „Familienpartei“, deswegen habe man Verständnis, dass der Generalsekretär wegen frischer Vaterschaft nicht an den Sitzungen teilgenommen hat. Leider war in ihrer Zusammenfassung der Ergebnisse der Bundesvorstandsklausur, die als neue politische Agenda nach dem EU-Wahlverlust verstanden werden soll, außer diesem neckischen Einwurf kein einziges inhaltliches, politisches Wort zum Thema Familie enthalten. Man hat in der „Familienpartei“ CDU in naher Zukunft offenbar dazu schlicht keinen Plan, keine Ideen und keine Haltung. Es wird sich zeigen, ob wenigstes die Juristen in der CDU bei der Debatte um Kinderrechte zur Vernunft rufen.