Mensch, Esther

Als 1975 im deutschen Fernsehen der legendäre Showdown „Alice vs. Esther“ im WDR stattfand, wurde ich gerade erst geboren. Am erstaunlichsten ist aus heutiger Sicht, dass Schwarzer und Vilar es geschafft hatten, 45 Minuten hart zu diskutieren, ohne sich zu prügeln oder abzubrechen und das ohne Moderation! Schon damals der Vorwurf: „Sie sind nicht nur Sexistin sondern auch Faschistin“.  Diese Vilar war einfach unerhört!

Und so passt der Titel von Alex Baurs sprachgewaltiger und nahezu liebevoller Biografie recht gut: „UNERHÖRT“. Der Wortsinn darf ruhig doppeldeutig stehen bleiben, denn bis heute hat man Esther Vilar und ihre Thesen vom dressierten Mann nicht erhört. Bis heute sind wir feministisch keinen Schritt weiter.

Die Frau als ewiges Opfer? Vilar entlarvte dies dankbare Mantra der feministischen Bewegung bereist in den 70ern als falsch. Frauen als raffinierte Täterinnen statt Schuld von System und Patriarchat? Das ging natürlich gar nicht.

Obwohl sie den Mann als verweichlichten Kerl nicht schonte, fühlten sich die Herren von ihr „verstanden“. Mit ihrer Kernthese, wonach Frau weder unterdrückt noch benachteiligt sei, sondern sich vom Gatten durchbringen lässt, indem sie den Zugang zu Sex und Fortpflanzung kontrolliert, war sie argumentativ nahe dran an den unterforderten „Latte Macchiato Müttern“, wie sie die deutsche Feministin Bascha Mika über 40 Jahre später in ihrem Bestseller „Die Feigheit der Frauen“ nachzeichnete. Der einzige Unterschied: Mika unterstellte den Frauen nicht Raffinesse, sondern schlicht Feigheit.

Es war das Instinktive, das gut Beobachtende, was ihren Erfolg ausmachte. Dass sie unbekümmert beschrieb was sie sah, nicht vorschrieb, was sein sollte. Aber es gilt auch: Keine Feministin ohne Prägung. Hört man sie selbst oder eher den Ausruf ihrer Mutter „Da könnte ich mich ja gleich prostituieren!“, auf die Frage, warum jene die kleine Esther alleine durchbrachte, statt Alimente vom treulosen Vater zu nehmen, wenn sie Hausfrauen kritisiert, die die „Laufbahn als Prostituierte“ einschlügen?

Sie hielt Geschlechterrollen für anerzogen, forderte und lebte mit Mann und Sohn schon in den 70ern genau jenes Fifty-Fifty-Modell mit braver Aufteilung von Erwerbsarbeit und Kindererziehung, für das sie bis heute jede deutsche Familienministerin sofort mit einem feministischen Fleißkärtchen belohnen würde. Freilich scheiterte auch sie an dem Modell Karrierefrau mit Hausmann, ihre Ehe wurde 1975 auf dem Zenit ihres Erfolges geschieden.

Zielsicher hatte Vilar aber die Achillesferse der Frauenbewegung erkannt: Schon Beauvoir beschäftigte sich nur mit dem Feindbild Mann, statt das Wesen der Frau zu analysieren.  Beauvoir, Schwarzer, Friedan, Greer, sie wollten alle über den Kopf überzeugen, Vilar schlug emotional über den Bauch ein.

Baur zieht die ganze Lebenslinie der eigenwilligen Ärztin Margarita Esther geborene Kratzer aus Buenos Aires nach. Tochter der deutsch-jüdischen Migranten Anna Schindler und Fritz Kratzer die 1932 mit wenig, aber einem Klavier im Gepäck in Argentinien ihr Glück suchten. Er bettet ihre Lebensgeschichte ein in den historischen Rahmen der letzten Kriegsjahre, die sie mit ihrer Mutter als Sechsjährige bei Nürnberg erlebt, die Rückkehr nach Argentinien bis zur erneuten Zeit im Deutschland der 70er und 80er Jahre, in der alles gleichzeitig möglich schien: Die Pille, Revolution, Wirtschaftswunder und Sozialismus. Die späteren Jahre als anerkannte Dramatikerin, deren erfolgreichstes Stück, „Die amerikanische Päpstin“, bis heute gespielt wird.

Großartig wie er ihren Auftritt auf die Weltbühne über den Weg einer überdrehten österreichischen Familien-Fernsehshow aufleben lässt. Mitten in die Überreiztheit hochtoupierter Haare und den immer etwas zu tiefen Ausschnitt einer Vivi Bach platzte wie ein Fremdkörper diese schulmädchenhafte zarte Maus Vilar in die Sendung „Wünsch dir was“ und erklärte den Männern in mechanischem Monolog ihre Versklavung durch die Frau. Nur als Notlösung für die erkrankte australische Feministin Germaine Greer eingeladen, löste sie gleich ein Erdbeben aus.

In der kollektiven Erinnerung ist jene Esther Vilar vor und nach „Der dressierte Mann“ verblasst oder war nie bekannt. Die Presse kolportierte mehr Fiktion denn Fakten. Sie wiederum nutzte das Fernsehen, den Boulevard, die Tumulte grandios. Finanziell war die Nummer ein voller Erfolg, der schwappte auch in die neue Wahlheimat Schweiz über, wo gerade heftig die Einführung des Frauenwahlrechtes diskutiert und beschlossen wurde, weil nicht einmal alle Frauen unbedingt ein Wahlrecht dringend gefordert hatten. Wie passend zu Vilars Thesen von der „Lust an der Unfreiheit“, so der Titel eines Folgebuches. 

Immer wurde ihr vorgeworfen, kein politisches Konzept zur Frauenfrage zu besitzen. Man könnte auch sagen: Zeitlebens blieb die sture Einzelgängerin Vilar dem Aktivismus der Frauenbewegung ein Rätsel, weil sie sich in einem von ihnen grundlegend unterschied: Sie wollte die Menschen gar nicht umerziehen.

Dieser Text erschien zuerst in der Wochenzeitschrift WELTWOCHE