Wann hat man sich „genug“ distanziert, um aus dem Verdacht einer Sippenhaft befreit zu werden? „Du sollst gefälligst eine Haltung haben“. Es scheint das 1. Gebot der Kriegsstunde. Wie ein Lauffeuer erschallt gerade der Ruf nach Haltung und Stellungnahme zum Ukraine Krieg. Die meisten muss man nicht dazu auffordern. Das ist der positive Teil einer weltweiten Solidaritätsbekundung für die gerade angegriffene Ukraine in einem Ausmaß, das der russische Präsident so sicher nicht erwartet hat. Selbst die Herren Taliban haben sich bei der Abstimmung der UN gegen Russland gestellt, viel tiefer kann man als Regierung also nicht sinken, wenn selbst Schurkenstaaten sich abwenden.
Viel wichtiger ist aber auch die bislang in diesem Ausmaß nie dagewesene Solidarisierung weltweiter Zivilbevölkerungen und auch global operierender Unternehmen, die sich gerade mit den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln am Boykott russischer Oligarchen, russischer Produkte und der russischen Wirtschaft beteiligen.
Die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland werden mit derart geschlossener Reihe durchgezogen, dass sich russische Unternehmen und Banken an den Aktienbörsen nahezu im freien Fall befinden. Die Folgen werden nicht nur die russische Regierung, sondern vor allem die russische Bevölkerung massiv treffen. Und damit meine ich nicht nur die russischen Oligarchen, die gerade beim Skiurlaub in Saas-Fee ihre Hotelrechnungen nicht mehr bezahlen können, weil ihre Kreditkarten über Nacht nur noch Plastik sind.
Der ein oder andere Russe ist langsam schlecht drauf
Sondern vor allem jene Russen, die im eigenen Land gerade alles verlieren und von der Welt abgeschnitten werden. Der ein oder andere Russe ist gerade schlecht drauf, weil seine Ersparnisse pulverisiert werden und er sich einer weltweiten Ächtung gegenübersieht. Und ja, man kann die Bevölkerung auch nicht völlig aus der Verantwortung für ihre Regierung entlassen, gleichzeitig geraten gerade Unschuldige und selbst Oppositionelle in Russland ins Trudeln.
Krieg funktioniert in diesem Jahrtausend anders als nur mit Panzern und Kampfjets. Anonyme Hackernetzwerke legen die TV-Sender und Regierungsnetzwerke von Aggressoren lahm. Privatmenschen wie Elon Musk stellen mit ihrem gigantischen Vermögen mal eben mit „Starlink“ die Internetversorgung eines fremden Landes sicher. Reihenweise trennen sich große Unternehmen von der Zusammenarbeit oder auch vom Sponsoring. Russisches Geld ist plötzlich schmutzig geworden, man achtet sorgsam jetzt neuerdings auf reine Westen. Der kleine Bürger kündigt die russische Klavierlehrerin und schüttet Wodka Gorbatschow in den Abfluss. Das Ganze wird bei Instagram und Co. dokumentiert. Wie schön, wenn man auf der richtigen Seite der Geschichte stehen kann, gerade als Deutscher.
Haltung als Volkssport
Eine neue Lust am Boykott ist entbrannt, das Bedürfnis Haltung zu zeigen tief eingeprägt, um nicht zu sagen, konditioniert. Gerade in Deutschland ist Haltung zeigen quasi ein verqueres Berufsethos für Journalisten geworden und der Lackmustest für zahlreiche Zugänge zum gesellschaftlichen Leben. Ich will nicht vom Thema abschweifen, aber zwei Jahre lang forderte man von uns als Bevölkerung eine Haltung zum Impfen. Vorher eine Haltung zum Klimaschutz und öffentlichen Verzicht auf alles was den Borkenkäfer aussterben lässt. Davor war die positive Haltung zur Migrationskrise gegen jeden Sinn und Verstand der Lackmustest des braven Bürgers. Bis heute suhlen sich viele in ihrer ach so toleranten Haltung für LGBT-Rechte bis hin zur Selbstverleugnung der eigenen Weiblichkeit. Hauptsache man hat die richtige Haltung. Der Ungeimpfte von gestern kann zumindest mal kurz verschnaufen, denn der Russe übernimmt gerade seinen Part. Bist du nicht für uns, bist du gegen uns.
Und ganz falsch ist es auch nicht, klare Haltungen einzufordern. Wir alle stehen im Leben oft an Wegscheidungen, die das nötig machen. Politisch betrachtet ist es nicht anders. Völkerrechtliche Verträge und politische Ansichten bewähren sich immer erst im Ernstfall der praktischen Anwendung. Friedenszeiten brauchen keine Waffen. Sie nähren aber die Illusion, man könne auf ihre abschreckende Wirkung verzichten. Und genaugenommen kostet keinen etwas die Teilnahme an einer Friedensdemo. Das ist alles schön, aber wo stehen wir alle, wenn es doch etwas kostet, sei es Geld oder Menschenleben?
Der 11. September 2001 war etwa auch so ein Tag, an dem die freie Welt entscheiden musste, wo sie steht. Die Ukraine-Krise spült gerade einfach nur die Frage nach einer längst überfälligen klaren Haltung zum Gebaren eines Herrn Putin und seiner Regierungsform an die Oberfläche. 2014, als er die Krim einnahm, war von dieser Entschlossenheit des Westens noch nicht viel zu spüren. Geschäfte und Energielieferungen waren damals wichtiger. Auch eine Partei wie die SPD hat jahrelang das Gebaren ihres Ex-Kanzlers Gerhard Schröder hingenommen, der aus dem Kanzleramt direkt bei Putin angeheuert hat. Es ist ja nicht so, dass das geheim war. Jetzt weiß man nicht wohin mit dem störrischen Schmuddelkind.
Wo ständen wir aber heute, wenn die Frage, ob man einfach mal in ein anderes Land einmarschiert und verkündet: „Ist jetzt unseres“ und wir „befreien“ euch damit, bereits damals auch von der deutschen Merkel-Regierung mit derselben Entschiedenheit zurückgewiesen worden wäre? Faktisch war die damalige Duldung des russischen Benehmens die beste Ermutigung, es jetzt noch einmal zu versuchen. Es könnte diesmal aber anders ausgehen.
Ein Wolf, der Kreide frisst, bleibt trotzdem ein Wolf
Ein paar Millionen Kriegs- und Militär-Experten kommentieren nun gerade live den Krieg in der Ukraine, ich auch. Und um es vorwegzunehmen: Allein schon meine persönliche Herkunft aus einem kommunistischen Land wie Rumänien inklusive Auswanderung 1984 noch vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ hat meine Haltung gegenüber der Sowjetunion wahrscheinlich klar und final geprägt. Meine gesamte Familie ist ja nicht wie so viele andere Deutsche aus Siebenbürgen aus Spaß und unter Verlust eines erheblichen Anteils unseres ganzen Besitzes in den freien Westen ausgewandert, sondern aus Gründen. Mein Misstrauen gegenüber dem russischen Staat ist in all den Jahren geblieben, das Unverständnis über die Naivität gegenüber dem „lupenreinen Demokraten“-System eines Herrn Putin auch. Ein Wolf der Kreide frisst, bleibt trotzdem ein Wolf, auch wenn er im Deutschen Bundestag hübsche Worte des Friedens spricht. Die Geschichte hat den Zweiflern nun recht gegeben.
Gerade beschimpfen mich in den sozialen Netzwerken Menschen wegen meiner klaren Verurteilung von Putin und seinen Schergen. Andere werden beschimpft, weil sie es nicht tun.
Zwischen Kunst und Konformismus
Haben Sie sich bereits genug und laut genug distanziert? Die russische Opernsängerin Anna Netrebko offenbar nicht, ihr Landsmann, der Stardirigent Valery Gergiev offenbar auch nicht. Netrebko wehrt sich gegen die Forderung, „Künstler oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu zwingen, ihre politische Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern und ihr Heimatland anzuprangern“. Wie viele ihre Kollegen sei sie kein politischer Mensch.
Gerade wird auch die Kunst im Namen der Politik in Haftung genommen. Der Künstler soll gefälligst eine politische Haltung haben. Aber bitte auch die richtige, sonst ist er raus. Wir kritisieren übrigens zurecht an totalitären Systemen, dass sie nur konforme Kunst zulassen. War es nicht auch ein Problem der DDR, dass Schriftsteller, Schauspieler und Musiker sich an die Partei anbiedern mussten, um etwas zu werden? Dass sie die richtige Haltung zur „Deutschen Demokratischen Republik“ vorweisen mussten? Wer argumentiert, dass Kunst frei sein muss, kann auch den russischen Künstler nicht zu Konformismus zwingen.
Kunstfreiheit als Gratmesser von gesellschaftlicher Freiheit wurde hierzulande aber spätestens bei der Aktion #Allesdichtmachen beerdigt. Wir dulden die Politisierung von Kunst und Sport nur im Namen von Klimagerechtigkeit, LGBT-Rechten und dem unermüdlichen gratismutigen Kampf gegen rechts. Dort bitte unbedingt Haltung einnehmen oder Knie beugen. Wehe, wenn die Kunst mit diesem Konsens bricht.
So wie Netrebko geht es gerade vielen Exilrussen. Man fordert von ihnen die Distanzierung von ihrem Heimatland, die meisten haben Freunde und Verwandte in Russland und auch in der Ukraine und gerade andere Sorgen. Die meisten waren in ihrem Leben bislang politisch nicht aktiv. Gerade wird ihnen ihre Herkunft und ihr etwaiges Schweigen – oder auch nur das zu lange Nachdenken – zum Vorwurf gemacht und das in einem Land, das an anderer Stelle nicht müde wird zu betonen, dass Herkunft keine Rolle spielen soll. Die Lust am Boykott überzieht alle Branchen. Sportler werden von Spielen ausgeschlossen, Restaurants boykottiert, Musiker entlassen. Die Sippenhaft im Namen der richtigen Haltung lebt. Selbst der Pen-Club für Autoren fordert russische Bücher und Autoren aus Bibliotheken, Lesungen und Verlagen zu werfen. Wollen wir jetzt Tolstoi verbrennen? Wer heute andere cancelt, ist morgen selbst raus.
Muss der Staat uns vor falschen Nachrichten „beschützen“?
Gerade hat die EU den russischen Staatsfunk von RT Deutsch verboten. Natürlich ist das ein Propagandasender Putins, aber ist ein Verbot das richtige Mittel freiheitlicher Demokratien? Wenn der EU-Bürger nicht mehr selbst entscheiden darf, was er sieht oder auch boykottiert und die Regierung uns vor Falschnachrichten „beschützt“, was unterscheidet uns dann noch von einem putinistischen Regime, das seinerseits dasselbe mit den unliebsamen Sendern in seinem Herrschaftsbereich tut? Wir wollten doch anders sein, oder sogar besser.
Wer dem Staat einmal das Recht überträgt, die Nachrichtenlage für den Bürger nach eigenem Gutdünken und Zumutbarkeit vorzusortieren, wacht in einem totalitären System wieder auf. Betreutes Denken ist zutiefst demokratiefeindlich. So manch einer scheint vergessen zu haben, dass seit zwei Jahren im Namen der Pandemiebekämpfung bereits heute und mit offener Ansage auf Kanälen wie Youtube auch wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder gesperrt und gelöscht werden, die nicht der offiziellen Meinung der WHO entsprechen. Natürlich nur zum Schutz der Bürger vor „Fakenews“. Der Lust an Boykott und Zensur ist ein selbstgerechtes und gefährliches Ding.
Nun boykottiere ich meinerseits auch Dinge, die ich nicht gut finde, wie etwa Bücher und Artikel, geschrieben in genderrunierter Sprache. Was im Moment ein bisschen schade ist, weil mir gerade das neue Buch von Ulrike Guérot mit dem vielversprechenden Titel „Wer schweigt, stimmt zu“ auf den Schreibtisch fiel, das ich aber vor lauter politisch korrekten Doppelpunkten in Substantiven bereits nach wenigen Seiten abgebrochen habe. Jeder hat seine Prinzipien. Die einen schütten russischen Wodka in den Abfluss, ich werfe Bücher in verhunzter Sprache weg.
Es ist aber deswegen schade, weil die Autorin sich darin explizit an dem Panik-Konformismus in Corona-Zeiten, den mitlaufenden Mitbürgern, den nicht nachfragenden Medien und den nahezu ins Totalitäre abrutschenden Rechtsstaat abarbeitet, der unter der Begründung einer Pandemie bis in absurde Details hinein und innerhalb kurzer Zeit eine hässliche Fratze zeigte und sie immer noch trägt. Wie schnell ein Land kippen kann, führt Kanada gerade eindrücklich vor, wo man selbst die Unterstützer von Regierungsprotesten nachverfolgt und juristisch ahndet. Hilf nicht den Abtrünnigen! Präsident Trudeau hat sich wie man hört vor der eigenen Bevölkerung verschanzt. Wäre es nicht aberwitzig, so wäre es fast lustig, so einen Essay statt in der Sprache des Volkes, mit der Privatgrammatik einer identitären Wokebewegung auf Papier zu bringen, die in ihrem Absolutheitsanspruch gerade alle niederbrüllt, die sich nicht absolut zum intersektionalen Kampf der LGBT-Befreiung bekennen. Denkverbote in selbstgeschaffenen Safespaces inklusive. Fällt Ihnen der Widerspruch denn nicht auf, liebe Kollegin?
Das Recht auf Schweigen
Jeder hat seine Prinzipien, die Titelthese fordert dennoch zu einem Gedanken heraus. „Wer schweigt, stimmt zu“. Ja wirklich? Juristisch jedenfalls nicht. In der feministischen Bewegung wird zum einverständlichen Beischlaf ein klares „Ja“ der Frau eingefordert, um die Schockstarre einer Vergewaltigung nicht zu einem Wohlwollen umzudeuten. Meine 13-jährige Tochter brachte es gleich auf den Punkt beim Anblick dieser Zeile: „Heißt das, wenn du nichts sagst, dann darf ich alles?“ Um anzufügen: „Ich will einen Hund!“ Netter Versuch.
Wer schweigt stimmt eben nicht zu. Man kann das Schweigen nun anprangern und es mag von manchen Menschen, gerade jenen, die politisch aktiv oder gar gewählt sind, eingefordert werden können, sich offen und klar zu positionieren. Aber wer schweigt, denkt vielleicht auch nur nach. Wer schweigt, braucht manchmal auch Zeit. Wer schweigt, ist nicht selten in einer Zwickmühle, gefangen zwischen sich widersprechenden Loyalitäten. Ein altes deutsches Sprichwort mahnt übrigens, Schweigen sei Gold.
Die Freiheit, sich zu entziehen
Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der man mir als Bürger egal welchen Landes ständig eine Haltung abverlangt. Freiheit bedeutet auch die Freiheit, sich zu enthalten. Die Freiheit, nicht politisch zu sein. Die Freiheit nicht mitzumachen in der Demokratie. Es unterscheidet uns von jenen Staaten, die ihren Bürgern dies öffentliche Bekenntnis abverlangen, um sie auf Linie zu bringen. Haltung aus Angst, nicht aus Überzeugung, das war in meiner Heimat Rumänien nicht anders als in der DDR.
Freiheitliche Verfassungen wie die deutsche fordern keine Mitmachpflicht, keine Äußerungspflicht und nicht einmal eine Wahlpflicht. Unsere Freiheitsrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. Das, was wir für uns in Anspruch nehmen, sollten wir gerade auch all den unter uns lebenden Russen so wie jedem anderen zugestehen. Man hört zunehmend, dass diese sich derzeit kaum trauen, ihre Herkunft offen zu zeigen, Anfeindungen ausgesetzt sind oder gar um ihre berufliche Existenz bangen. Wer sich in seiner Selbstgefälligkeit als Deutscher daran beteiligt, hat nicht nur definitiv eine falsche Haltung, sondern ist kein Deut besser, als jene, gegen die er vorgibt zu kämpfen.
Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien am 04.03.2022 bei Focus Online LINK
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