Der Text ist bereits ein paar Monate alt, leider aber immer noch wahr, ein paar unangenehme Fakten zum Thema Organspende und warum die Widerspruchslösung kein „Lösung“ sondern ein neues Problem darstellen würde:
„Nein heißt nein“, ruft uns eine feministische Kampagne gegen sexuelle Übergriffe aus dem Internet zu. Aber ist Schweigen ein Ja? Bei sexueller Nötigung ganz sicher nicht, bei der Frage der Organspende soll es aber neuerdings zu einem „Ja ich will“ werden. Schweigen ist kein Einvernehmen. Wer nichts sagt, hat definitiv nicht „Ja“ gesagt. Wir legen in Deutschland in der Regel sehr hohen Wert auf das Selbstbestimmungsrecht des Menschen, auf den Schutz von Persönlichkeitsrechten und die Autonomie des eigenen Körpers. Deswegen schützen wir, so seltsam es manchen vorkommt, selbst die Ruhe, die Würde und die körperliche Unversehrtheit von Toten. Bestattungsrituale sind so alt wie die Menschheit selbst. Was für die Wartenden auf ein Organ als Luxusproblem erscheint, spielt in zahlreichen Religionen keine unerhebliche Rolle. Deswegen dürfen sogar 14-Jährige bereits der Organspende widersprechen, denn es ist der Beginn der gesetzlichen Religionsmündigkeit. Explizit zustimmen dürfen sie aber erst ab 16, das wiederum ist Jugendschutz.
Schweigen ist kein ja, deswegen müssen wir jedem Arzt schriftlich vor einer Operation zusichern, dass er uns aufschneiden, also verletzten darf, selbst wenn er das ja zu unserer eigenen Heilung tun will. Das ist nicht schizophren, sondern zum Schutz der Patienten so, es soll verhindern, dass eine Behandlung gegen unseren Willen geschieht. Und wegen desselben Rechtsprinzips darf man ohne explizites Einverständnis keine Frau anfassen, niemandem ein Zeitungsabo andrehen, deswegen wird das Jawort nicht nur beim Standesamt zwingend gebraucht, sondern nach der neuen Datenschutzverordnungen darf man nicht einmal einen Newsletter mehr ohne explizite Einwilligung des Empfängers per Mail zustellen. Nur ja, heißt ja, sonst ist es im Zweifel ein nein.
Heute beriet nun der Bundestag in erster Lesung den Gesetzesentwurf von Gesundheitsminister Jens Spahn und dem SPD-Gesundheits-Experten Karl Lauterbach, der uns alle auch ohne ein „Ja“ zu potenziellen Organspendern machen würde, wenn wir nicht bei Lebzeiten aktiv widersprechen. Derzeit gilt in Deutschland die sogenannte „Zustimmungslösung“, wonach jemand explizit zugestimmt haben muss, oder seine Angehörigen dies in seinem Sinne tun müssen, wenn er dazu nicht mehr in der Lage wäre.
Die gute Nachricht ist: Die Bereitschaft der Deutschen, ihre Organe zu spenden ist hoch. Verschiedene Umfragen zeigen, bis zu 84 Prozent aller Bürger sind für Organspende, doch nur 36 Prozent aller Bundesbürger haben einen Organspendeausweis, der dies aktiv bezeugt. Eine große Diskrepanz, die zeigt, dass die Bereitschaft bei vielen zwischen Wort und Tat entschwindet. Die aber auch zeigt, dass das heikle Thema des eigenen Todes von den meisten gern umgangen wird. Dass das Thema mit Ängsten und Sorgen verbunden ist. Immer wieder hatten in der Vergangenheit zudem Skandale bei der gerechten Vergabe der Organe zu dramatischen Einbrüchen bei der Spendenbereitschaft in der Bevölkerung geführt. Das zeigt vor allem auch: Ist das Vertrauen in das System nicht vorhanden, geht der Mensch lieber auf Nummer sicher und sagt nein. Oder er sagt gar nichts. Das als Zustimmung zu werten, wäre nahezu skandalös.
Es mangelt nun aber an Organen, über 10.000 Menschen warten derzeit auf ein Spenderorgan. Das sind keine Statistiken, sondern Menschen. Jeder ein Schicksal für sich und das kann und darf uns nicht kalt lassen. Angesichts dieser Situation erscheint die vorgeschlagene „Widerspruchslösung“ von Spahn und Co. auf den ersten Blick sympathisch. Wenn doch so vielen geholfen werden könnte, warum sollten wir alle an unserem toten Körper hängen, statt im Ableben noch etwas Gutes zu tun?
Ja, das ist eine gute Frage, und jeder der einen Wartenden persönlich kennt, der ein krankes Kind oder einen guten Freund hat, der dringend ein Organ braucht, weiß, es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Sache um Leben und Tod und die Zeit rennt erbarmungslos. Fortschreitende Innovationen in der Medizin nähren zudem Machbarkeitsphantasien und Überlebensillusionen, die dann in der Realität erst einmal auf harten Boden fallen.
Das „Recht auf Leben und Gesundheit“ und die Angewiesenheit auf Hilfe bei den Betroffenen wiege mehr, als das Recht, einer Entscheidung aus dem Weg zu gehen, sagt entsprechend Spahn. Karl Lauterbach packt moralisch noch einen drauf, es sei eine „Schande“, dass derzeit so viele Menschen unnötig litten, weil keine Organe für sie vorhanden seien.
Nun liegt das Wesen der Spende in ihrer Freiwilligkeit, sonst hieße sie ja „Pflicht“. Muss man sich also neuerdings schämen, wenn man nicht zu einer freiwilligen Spende seiner eigenen Organe bereit ist? Darf die Gesellschaft von mir verlangen, im Tod für andere noch nützlich zu sein? Es ist nur ein Katzensprung bis zur Nötigung. So hart es klingen mag: Aber nein, diese Menschen sterben nicht an unserer unterlassenen Hilfeleistung, sondern an ihrer Krankheit. Das ist nicht nur juristisch, sondern auch ethisch ein gewaltiger Unterschied. Wir können Gott beschimpfen, das Universum oder das Schicksal angesichts der Ungerechtigkeit eines sterbenden Kindes, aber Schuld hat ganz sicher nicht der spendenunwillige Nachbar an dieser Tragödie.
Es passiert mir selten, dass ich mich politisch auf Seiten der Grünen und der Linken schlage, doch es ist diesmal der fraktionsübergreifende Gegenvorschlag von Annalena Baerbock von den Grünen, der von Linken aber auch von CDU-Abgeordneten unterstützt wird, der nicht alle Prinzipien im Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen über Bord wirft. Der alternative Gesetzesentwurf will darauf hinwirken, dass Menschen häufiger mit der Frage nach ihrer Spendenbereitschaft konfrontiert werden sollen. Überzeugen, statt übergehen. Ein Standpunkt den nicht nur viele Bundestagsmitglieder teilen, sondern auch Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Patienten und Angehörige würden übergangen, sagte er im Interview mit dem Deutschlandfunk. „Die Widerspruchslösung wird den ersten Skandal produzieren, wenn Angehörige nicht ‚Ja‘ gesagt haben. Wenn sie sagen, dass der Patient das nicht gewollt habe“, so Eugen Brysch. „Wollen wir solche Skandale in Deutschland? Ich hoffe nicht.“
Man kann nur im Sinne aller Wartenden mit hoffen, denn von so einem Skandal würde sich die Spendenbereitschaft der Deutschen vermutlich lange nicht erholen, wir sollten also vorsichtig sein.
Gut, wenn in einem so heiklen Thema kein Fraktionszwang herrscht. Denn ja, es geht um Leben und Tod und deswegen bleiben Fragen offen, die erst noch diskutiert und geklärt werden müssen und deren Antwort auch der Gesundheitsminister bislang schuldig bleibt, bevor der Staat faktisch die Körper seiner Bürger enteignet und ganz in sozialistischer Manier dem Kollektiv zu Gute kommen lässt. Nicht nur das Prinzip der Autonomie wird da mit dem Bade ausgeschüttet.
Da wäre zum einen die offene Frage, warum Jens Spahn es so eilig hat und nicht einmal die eigene Novellierung des Transplantationsgesetzes aus dem März dieses Jahres überhaupt erst zur Entfaltung kommen lassen will, die vor allem das Manko der Abläufe in den Kliniken beseitigen soll. „Die Widerspruchslösung wird nicht zu mehr Organspenden führen“, zeigt sich Rudolf Henke, Bundestagsabgeordneter der CDU überzeugt. Er ist nicht nur stellvertretender Vorsitzender im Gesundheitsausschusses des Bundestages, sondern auch Präsident des Ärzteverbandes Marburger Bund und unterstützt explizit den Entwurf der Grünen Baerbock. Wer über die Praxis im Transplantationsbetrieb etwas wissen will, bekommt bei ihm ehrliche und anschauliche Beispiele. In manchen Fachkliniken würden siebzehnmal mehr Organtransplantationen möglichgemacht, als in anderen Fachkliniken und das liege nicht an regional übersteigerter Spendenbereitschaft. Allein durch eine flächendeckende Orientierung an den best practice Kliniken könnte das Spendenaufkommen in Deutschland vermutlich verdoppelt werden, sagt der Vertreter der Ärzteschaft. Das Gesetz aus dem März, das die Umsetzung und Durchführung von Transplantationen optimieren soll, konnte noch nicht einmal flächendeckend in Gang gebracht werden. Warum will Spahn die selbst vorgeschlagene Verbesserungen eigentlich nicht abwarten und auf ihre Wirksamkeit hin analysieren und stattdessen überhastet noch einen drauflegen?
Zu der Fülle heikler Einwände, sollte Organspende zur Bürgerpflicht erklärt werden, gehört für mich als Mutter auch die Frage, wie juristisch zu rechtfertigen ist, dass meine Kinder bereits ab 16 Jahren ebenfalls betroffen sind. Haben sie die geistige Reife, sich mit dem eigenen Tod und ihrem Sterbeprozess im Fall eines Unfalls tatsächlich auseinanderzusetzen? Wir lassen sie weder wählen noch Autofahren, schicken sie um Mitternacht ohne „Muttizettel“ aus der Disco nach Hause, halten sie für derart unzurechnungsfähig, dass wir sie noch bis 21 nach Jugendstrafrecht nachsichtig aburteilen, jetzt sollen sie aber über die Umstände ihres Todes entscheiden?
Der Presse ist zu entnehmen, dass der Gesundheitsminister gerne möchte, dass das Thema verstärkt in den Schulen besprochen wird, damit die Kinder sich damit befassen. Nachdem wir gerade erst in den vergangenen Wochen erlebt haben, wie in Schulen moralischer Druck zur gemeinsamen Klimarettung auf Kinder aufgebaut wurde – an manchen Schulen wurde die Teilnahme an den Friday for Future Demos gar zum Schulausflug mit Teilnahmepflicht deklariert – macht es mir Sorgen, dass die Vermittlung dieses heiklen Themas möglicherweise von der persönlichen Ansicht des Lehrers abhängt und zwar unter Ausschluss der Eltern. Moralischen Druck auf Kinder auszuüben ist leicht. Schaut man sich zudem die Materialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung an, die zu diesem Zweck bereits existieren, erscheint es eher wie eine Werbeveranstaltung, denn eine ausgewogene Entscheidungsfindung mit allen Risiken und Nebenwirkungen, was wir sonst selbst für die Einnahme einer Kopfschmerztablette für notwendig erachten, findet nicht statt.
Und wenn wir schon einmal bei der Frage der geistigen Reife sind: In Deutschland gibt es laut Angaben der Stiftung Lesen derzeit mindestens 6,2 Millionen Analphabeten und ca. 10,6 Millionen Menschen, die zwar zusammenhängende Texte verstehen, aber dennoch nicht gut lesen und schreiben können. Es ist ebenfalls ein heikles Thema, niemand gibt das gerne zu. Betroffene schaffen es oft jahrelang ihr eigenes Umfeld zu täuschen. Werden sie die staatlichen Schreiben und die Aufforderung, man könne ja widersprechen, überhaupt verstehen? Was ist mit Menschen mit Behinderungen? Der Gesetzentwurf von Spahn, Lauterbach und den anderen sagt zwar, „bei Personen, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer Organ- oder Gewebespende zu erkennen und ihren Willen danach auszurichten“ soll die Organ- oder Gewebespende für unzulässig erklärt werden, doch die Analphabeten haben das ja nicht im Ausweis stehen, kein staatliches Register erfasst Leseschwächen. Rein praktisch stellt sich die Frage, ob die Klinik im Entscheidungsfall und unter Zeitdruck das überhaupt überprüfen kann und wird. Was ist mit jenen Bürgern, die auf dem Papier die deutsche Staatsbürgerschaft längst haben, aber kein Deutsch sprechen, wissen und verstehen sie, dass sie irgendwo widersprechen müssen? Was ist mit den Millionen Flüchtlingen im Land, werden sie in der Fülle der Muttersprachen aufgeklärt?
Worüber zudem aktuell niemand, weder Henke noch die Grünen diskutieren will, ist die Frage, ab wann der Mensch tatsächlich tot ist und somit für eine Organspende freigegeben. Deutschland hat sich wie die Mehrheit der Länder für dem „Hirntod“ als medizinische Messlatte des Todes entschieden. Faktisch ist der Hirntod eine Definition von Transplantationsmedizinern an der Universität Harvard im Jahr 1968, die das Dilemma lösen sollte, dass der Körper vor der Organentnahme ja noch leben muss, weil die Organe sonst irreversibel geschädigt sind, die Ärzte sich also strafbar machen würden, aus dem lebenden Körper Organe zu entnehmen und damit endgültig den Tod auslösen. Wer vorher schon „tot“ wäre, den kann der Arzt nicht mehr töten. Nun haben Hirntote weltweit mehrfach noch Kinder ausgetragen und geboren oder auch mit ihrem Sperma Kinder gezeugt, sie könne Schweißausbrüche und Bluthochdruck bekommen bei der Organentnahme. Genaugenommen ist der „Hirntod“ also ein Vehikel, weil man keine bessere Lösung hat und selbst unter Medizinern umstritten.
Je stärker die Nachfrage nach Organen, umso flexibler werden die Transplantationsgesetze – das zeigt zumindest der Vergleich und die Erfahrung im Ausland. Ja, in Deutschland gilt „wenigstens“ noch die Hirntod-Definition, in zahlreiche europäische Länder hat man diese Messlatte bereits tiefer gelegt mit der klaren Begründung, das Organaufkommen zu erhöhen. Spanien wird gerne als europäischer Organspende-Spitzenreiter zitiert. Was nicht genannt wird, ist die Tatsache, dass dort bereits der Herztod als Todeskriterium ausreicht – also ein Zeitpunkt, bei dem in Deutschland noch Wiederbelebungsmaßnahmen erfolgen. Konkret gesagt: Man ist dort viel früher „tot“ als hier bei uns. Das erklärt die hohen spanischen Organspende-Zahlen möglicherweise viel besser, als die vielgelobte Widerspruchslösung, die dort praktiziert wird und die Spahn kopieren will. Die sogenannten „Non-Beating-Heart-Donors“ werden auch in der Schweiz, in Frankreich, den Niederlanden oder in Teilen der USA adaptiert. Jeder Tourist sollte übrigens wissen, dass im Urlaub nicht deutsches, sondern lokales Organspende-Gesetz angewendet wird.
Bevor wir also übereilt mit neuen Gesetzen zwangsweise den Spenderkreis erhöhen, wäre am Schluss auch noch die Frage zu klären, wie wir zum Schutz der Patienten in Deutschland wenigstens absichern, dass die Definition des Todeszeitpunktes nicht wie im Ausland durch Ärzte verändert wird, weil es gerade nützlich erscheint. Im deutschen Transplantationsgesetz steht nirgendwo das Wort „Hirntod“. Wörtlich heißt es unter Paragraph 3, 2, lediglich, dass die Entnahme von Organen oder Geweben zulässig sei, „wenn der Tod des Organ- oder Gewebespenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist.“ Der Stand dieser Erkenntnisse ist in manchen Nachbarländern bereits einem opportunistischen Geist geopfert worden. Wir sollten nicht fragwürdige „europäische Standards“ kopieren, sondern in Deutschland Vertrauen schaffen in die medizinischen Abläufe und Entscheidungsprozesse. Denn die Menschen als mündige Bürger zu behandeln, ist der sicherste Weg für mehr Jas zur Organspende.