Reifeprüfung. Meine Kinder können mit dem Wort nichts anfangen. Die nicht mehr ganz Jungen erinnern sich noch wage an den gleichnamigen Film, in dem der blutjunge Dustin Hoffman von der sexuell unausgelasteten Anne Bancroft zum Mann gemacht wird, was zumindest schon mal zielsicher in Richtung „Lernen für das Leben“ weist. Die Alten sagen schlicht: So nannte man früher das Abitur. Damals war ja bekanntlich alles besser, heute fallen zunehmend Abiturienten durch besagte Reifeprüfung, der aktuelle Höchsttand weist eine Quote von fast 3,8 Prozent aus. Das ist genaugenommen wenig. Hätten wir in Deutschland ein zentrales Abitur auf Bayern-Niveau, wogegen sich die Bildungsexperimenteure zahlreicher Länder erfolgreich wehren, wäre die Durchfallquote noch höher. Das Ergebnis aber jedenfalls ehrlich. Nachdem das Abitur jahrelang als Ramsch-Ware verschleudert wurde, indem man das Leistungsniveau kontinuierlich nach unten senkte, war von der einstigen „Hochschulreife“ sowieso nicht mehr viel übriggeblieben. Wenn 25 Prozent aller Kinder in Deutschland ein Abitur mit einer Eins vor dem Komma bekommen und ein Bundesland wie Thüringen einen Abi-Schnitt von 2,17 erreicht, ist das nicht Zeichen einer spontanen Bildungsexplosion, sondern dafür, dass die einstige Zugangsberechtigung für höhere, universitäre Studien heutzutage leichter zu bekommen ist, als ein Schwimmabzeichen. Dafür müssen Kinder nämlich noch etwas auswendig lernen, und wenn es nur Baderegeln sind. Meine vier können ergoogelte Powerpoint-Präsentationen mit Wikipedia-Wissen erstellen, aber kein Gedicht auswendig. Das ist nicht ihre Schuld. Das eine hat man von ihnen eingefordert, das andere nicht.
Wenn heute Ausbildungsbetriebe stöhnen, dass nicht einmal Grundrechenarten bei Azubis vorausgesetzt werden können und Universitätsprofessoren bemängeln, dass Studenten die Rechtschreibung nicht mehr sicher beherrschen, braucht man nicht einmal Hochschulreife, um sich auszurechnen, dass dies auch Ergebnis eines chaotischen, föderalen Schulwesens ist, dass sich von Reform zu Reform hangelt, vom neunjährigen zum achtjährigen Abitur und wieder zurück, das neuerdings Kompetenzen statt Wissen vermittelt und Dinge wie Noten, Leistung, Anstrengung und teilweise sogar das Sitzenbleiben konsequent aus dem Schulalltag getilgt hat. Selbst beim immer leichter zugänglichen Abitur fallen also immer mehr Schüler durch. Es ist längst fünf nach zwölf.
Die obligatorischen Schuldzuweisungen zwischen Lehrerverbänden und Politik haben bereits begonnen, nur jene, die Kinder auf der Schule haben, sind wenig überrascht, ist doch Schule schon lange ein einziges Experiment, für Kinder und Eltern. Mit vier Kindern im Lehrbetrieb habe ich in der Mehrheit sehr bemühte Pädagogen erlebt, die die Weisungen aus ihren Ministerien teilweise ignorierten, und lieber auf ihren Erfahrungsschatz bauten, als auf neuen Schnickschnack.
Der pädagogische Totalausfall lauert dennoch auch in jeder Schule. Wie ein roter Faden zieht sich die Utopie von Leistung ohne Anstrengung durchs System, gepaart mit ständig neuen Lernformen und Ideen. Alles muss Spaß machen, so wie das Schreiben nach Gehör, wenn die „schüla chraibn dufen wii si woln“. Was man als Eltern nicht verbessern soll, weil es angeblich die Motivation der Kinder ruiniert. In zivilem Ungehorsam habe ich es doch getan, bevor die Kinder so schreiben, wie man in Köln-Kalk spricht.
Die ersten Jahre in der Grundschule schafft man kaum einen Einkauf im Supermarkt, bevor schon wieder Schulschluss ist. Mal drei Stunden, mal vier. Hausaufgaben sind Mangelware, da immer jemand beim Elternabend jammert, weil Klein-Frederik unzumutbar lange braucht. Anstrengung als ständiger Affront. Manche Kinder werden nie zum Lernen angeleitet. Stattdessen „Schleichdiktat“, das ist, wenn 26 Schüler gleichzeitig aufstehen und zur Fensterbank laufen, um sich dort einen Satz zu merken, zurückrennen und aufschreiben, was sie unterwegs nicht vergessen haben. Na gut, sie hatten dadurch wenigstens Bewegung, denn Sport fällt ja wieder aus.
Ein Sohn hat vier Jahre in der Grundschule nie mehr als 5 Minuten täglich ins Lernen investiert und dennoch nur Einser kassiert. Die Lehrerin war mehr Tage weg, als da. Die Klasse monatelang im Kollegium verteilt. Ohne Lernen schaffte er es glänzend bis Klasse acht und war dann innerhalb eines halben Jahres versetzungsgefährdet. Konsequent Hausaufgaben machen zu müssen – jeden Tag – hat er ausgerechnet im Auslandsjahr in den USA gelernt. Das gern belächelte Bildungswesen in Amerika schwört da auf Disziplin. Ich kenne Lehrer, die das Verbessern von Klassenarbeiten für verzichtbar halten, was ich dann als Mutter zum Leidwesen meiner Kinder erzwang. Kind vier hat neu auf dem Gymnasium immer noch kaum Hausaufgaben. „Habe ich schon in der Schule fertigbekommen“. Wieso werden sie im Unterricht gemacht? Wohnen die Kinder jetzt dort? Man erlebt praktisch nie, dass Kinder mal „büffeln“, vor dem Abi und im Studium sollen sie es dann aber können. Parallel fällt bereits seit Wochen ein Fach komplett aus. Wie praktisch, dass die Fehlstunden an den Schulen in NRW nicht mehr erfasst werden.
Hartnäckig hält sich das Märchen, Noten sagten nichts über Leistung aus und seien demotivierend, weswegen man erst Ende der zweiten Klasse endlich Zahlen statt Aufsätze in der Hand hält. Kluge Eltern üben früh, die Zeugnis-Prosa in Talente und Defizite zu übersetzen. Eine Eins wäre eine Aussage für ein Kind. Eine Vier auch. Aber Lisa-Marie zeigt sich kreativ in der Heft-Gestaltung und schafft es zunehmend, dem Unterricht zu folgen ist natürlich hübscher als „nicht mal ansatzweise schulreif“. Wie soll sie es auch sein, wenn man inzwischen schon Fünfjährige einschult?
Es gleicht der Quadratur des Kreises, dass die Politik die individuelle Förderung der Kinder verspricht, gleichzeitig aber Elitenbildung und Leistungsvergleiche hysterisch vermeidet. Es könnte ja Ungleichheit in Veranlagung und Leistungsniveau der Schüler dokumentieren. Ich sah schon Sportfeste, bei denen die Einzelwertung abgeschafft war, und alle Punkte in eine Klassenwertung hineinflossen. Kein Kind durfte alleiniger Sieger sein, damit sich keiner schlecht fühlt, wenn er dick und langsam ist. Alles für das Kollektiv. Soviel Sozialismus habe ich nicht einmal in meinem Geburtsland Rumänien erlebt.
Dafür war ich schon als Neunjährige meinen deutschen Schülern um ein Schuljahr voraus, als ich hier ankam. Sichere Rechtschreibung und Geteiltrechnen bereits abgehakt. Und das war vor 35 Jahren schon so. Nun bin ich nicht in den freien Westen gekommen, um den Kommunismus zu glorifizieren, aber er hatte nüchtern betrachtet eine weitaus effizientere Schule mit Leistungsprinzip und Disziplin. Ganz Asien, Indien, Russland, ach, der Rest der Welt lernt so. Sie werden uns überrennen. In Deutschland freut man sich, wenn Kinder Schule schwänzen für das Klima.
Nun wird bemängelt, nirgendwo hinge das Bildungsergebnis eines Kindes so sehr vom Elternhaus ab, wie in Deutschland. Die SPD wollte deswegen bereits vor Jahren die Hausaufgaben abschaffen und durch eine obligatorische Ganztagsschule ersetzen. Wegen der Bildungsgerechtigkeit. Ist ja auch unfair, wenn manche mit dem unlauteren Mittel elterlicher Fürsorge besser sind. Das führt womöglich zu Ungleichheit! Dann lieber alle gleich schlecht. Oder wenigstens Abi für Alle.
Gott bewahre also, dass man unsere Kinder in naher Zukunft ganztags in ein überfordertes Schulwesen zwängt, um ihnen noch den letzten Rest individueller Förderung am heimischen Küchentisch zu nehmen. Die Kluft zwischen den sehr guten und den restlichen Schülern wird größer, auch das ein Ergebnis der aktuellen Statistik. Es kommen jene gut durch die Schule, die gelernt haben, eigenständig zu lernen. Leider erhalten sie das Handwerkszeug dazu nicht mehr zuverlässig im Schulbetrieb. Was nutzt das Gezerre um die Digitalisierung von Schule, wenn Mathe, Deutsch und Chemie nicht zuverlässig stattfinden? Wozu braucht es Laptop-Klassen, wenn die Handschrift dafür verkümmert? Aber was wissen schon Eltern? Wir sind bekanntlich nur jene, die entweder bildungsfern und desinteressiert sind oder alternativ als Helikoptereltern nerven. Bei Kind vier platzte mir dann aber doch einmal der Kragen. Elternsprechtag zur Lage der jüngst Eingeschulten. Die Lehrerin merkt an, wir hätten ja echt Glück, dass alle unsere Kinder so unkompliziert seien. Kurz habe ich gezögert, und es dann doch ausgesprochen. Weil ich es leid bin, dass wir als Eltern immer schuld sind, wenn ein Kind aus dem Ruder läuft. Leistungsbereite und sozialverträgliche Kinder aber angeblich vom Himmel fallen. Es ist kein Glück, sondern zeitintensiv und ein anstrengendes Stück Arbeit. Wir reden, motivieren, ermahnen, diskutieren, lesen vor, fordern heraus, verbessern und schimpfen. Und halten all jene Kinder bei Stange, für die im Schulbetrieb niemand Zeit und Nerven hat. Bildungsvorteil Elternhaus.
Derweil werden die Bildungspläne im Land mit geschlechtergerechter Sprache und mehr sexueller Vielfalt schon in Grundschulen bestückt. Man muss ja Prioritäten setzen. Wer sein Geschlecht tanzen kann, wir die Chinesen auf dem Weltmarkt sicher schwer beeindrucken. Wenn wir also nur halb so viel Energie darin stecken würden, dass niemand mehr als Analphabet eine deutsche Schule verlässt, hätte das Land der Dichter und Denker wieder die Chance, eine Bildungsnation zu sein. Die Vorzeichen stehen schlecht.
Der Text erschien erstmals am 04.04.2019 in der Tageszeitung “Die Welt”.